Allen Frances: Wer oder was ist normal?

Immer wieder begegne ich im Alltag psychiatrischen Diagnosen – einfach so, von Laien in den Raum geworfen und nur anhand weniger Merkmale festgemacht. Selbstverständlich wird dies dann auch felsenfest behauptet und Widerworte wild diskutiert. Ein schönes Beispiel ist für mich ein Forum einer Frauenzeitung, in dem ich immer mal zur Unterhaltung mitlese (selten mitschreibe). Hier werden auch allerhand Beziehungsprobleme gewälzt und was da an Ratschlägen und Diagnosen kommen, kann einem die Haare zu Berge stehen lassen. Z. Bsp. sobald ein Mann mal etwas gestresst nach Hause kommt, einfach schlecht geschlafen hat, vielleicht noch den Bus verpasst hat und so nun der Frau missmuffelig entgegentritt, startet Frau einen Thread. Hier wird ausgewalzt, wie wenig man sich beachtet fühlt und schwupsdiwups – Eheberatung, Therapie, der Mann ist doch manisch depressiv…Und das alles innerhalb weniger Seiten und von völlig fremden Menschen ganz klar analysiert.

Ein anderes Beispiel, was wohl v.a. auch Jungsmütter kennen, die spontane Analyse Fremder oder auch Familienangehöriger, dass das Kind doch wohl nicht etwa ADHS hat?! Ja, es ist aufgedreht, weil es sich freut, eben jene Personen zu treffen, und ja, es will alles sofort erzählen, zeigen etc. und verhaspelt sich dabei vielleicht. Aber deswegen ist es doch noch ein normales, tobendes, fröhliches Kind…(und ganz zu schweigen davon, dass es noch in einem Alter ist, wo diese Diagnose noch nicht gestellt werden kann.)
Immer mehr wird das Normale eingegrenzt und immer mehr Ticks und Macken zu unnormalen Verhalten und therapiebedürftig erklärt. Hier steht natürlich auch das Interesse der Ärzte und Pharmaindustrie dem Normalsein einfach im Wege.
Bei der Neuerstellung des DSM IV ( Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) gab es dementsprechend große Diskussionen über die Ausweitung und Neuaufnahme psychiatrischer Erkrankungen. Auf der einen Seite sind die Psychiater, die alles in Diagnosen zwängen möchten und für jedes Wehwehchen eine Bezeichnung haben möchten. Die andere Seite bilden die Psychiater, die wieder für mehr Normalität plädieren und für ein überschaubares DSM. Einer der Verfechter ist Allen Frances.

Sein Buch „Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“ habe ich gerade gelesen und kann es allen, die einmal ein interessantes Sachbuch lesen wollen, empfehlen. Ich würde das Buch nicht unterhaltsam nennen, aber man kann es auf alle Fälle gut lesen und die Hintergründe, die Frances darlegt, sind durchaus auch für den Laien interessant. Frances warnt eindringlich vor einer überhandnehmenden Pathologisierung allgemeiner menschlicher Verhaltensweisen und schlägt auch gute Gegenmaßnahmen vor. Schönes Beispiel dabei ist für mich die Trauerarbeit – früher gab es ein Trauerjahr, dass auch optisch (schwarze Kleidung) eingehalten wurde. Heute wird bereits nach wenigen Wochen komplettes Funktionieren erwartet und es gäbe sofort den Rat der Therapie, wenn man nach 6 Monaten noch schwarz tragen würde…

Auch ich stimme Frances zu, dass alltägliche und zum Leben dazugehörende Sorgen und Seelenzustände nicht immer sofort als geistige Krankheiten zu kategorisieren sind und so die Hilfe für die, die sie wirklich benötigen, unnötig zu blockieren.
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